Zeit der Aussteiger


Von den 1830er Jahren an bis weit ins 20. Jahrhundert hinein machen
sich Menschen in ganz Europa auf, um Lebens- und Arbeitsgemeinschaften
fernab der großen Städte in naturnaher, schöner, zuweilen auch wilder
Umgebung zu gründen. Das Leben in den Künstlerkolonien, von Barbizon,
der Mutter aller Künstlerkolonien, über Capri und Worpswede bis Ascona,
ist von bewusster Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Die
Aussteiger suchen eine Gegenwelt zur Dichte und zum Konkurrenzdruck in
den Städten, zum übersteigerten Nationalismus und dem allgegenwärtigen
Krisengefühl. Ohne große soziale Kontrolle entwickeln sich neue
Lebensstile, die sich erst deutlich später in der gesamten Gesellschaft
durchzusetzen beginnen, manche von ihnen erst im 21. Jahrhundert. Dazu
gehören die Frauenemanzipation und das Spiel mit verschiedenen
Geschlechterrollen ebenso wie das offene Ausleben einer freieren Sexualität.

Mit der Zeit entsteht ein Netzwerk von Subkulturen, das von Skagen an
der Nordspitze Jütlands bis nach Tanger an der marokkanischen Küste, von
der Finistère, der äußersten Spitze der Bretagne, bis nach Korfu reicht.
Nicht selten kommt es sogar vor, dass Künstlerinnen und Künstler von
einem Aussteigerort zum andern pendeln. Darunter sind regelrechte Stars,
aber auch nur Eingeweihten bekannte Malerinnen wie Helene Schjerfbeck
oder zu Unrecht vergessene Schriftstellerinnen wie Maria Lazar. Der
Schweizer Autor und Ausstellungsmacher Andreas Schwab hat sie zu einem
Reigen arrangiert: Elf Personen, darunter Alma Mahler-Werfel, Arthur
Schnitzler und Truman Capote, führen uns in zehn verschiedene
Künstlerkolonien. Nach einer Zeit des Aufenthalts, in der wir in die
besondere Atmosphäre von Pont-Aven, Altaussee oder Taormina eintauchen,
machen wir uns mit einer dort lebenden Person in die nächste Kolonie
auf – bis wir am Ende des Reigens auf dem Monte Verità angelangen, wo
uns der «wilde Denker» Harald Szeemann in Empfang nimmt.

Die Leseprobe ist hier erhältlich [Schwab_Leseprobe_Zeit der Aussteiger].

Rezensionen

NZZ, 23.8.2021, Clemens Klünemann: «Die Schilderungen der jeweiligen Aufenthalte fügen sich quasi nebenbei zu einer Kulturgeschichte der intellektuellen Beziehungen. Sie sind angereichert mit vielen historischen Aperçus über den «gemeinsamen Kulturraum Europa» mitten in der Hochzeit des Nationalismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – und auch voll von Anekdotischem,das die hehrenAnsprüche der Aussteiger bisweilen relativiert. […]
Andreas Schwabs Buch ist eine nachdenkliche Kritik derjenigen Form
der Welterkundung, die anders sein will als das bereits von Fontane verabscheute «Massenreisen». Es führt dabei zu wunderschönen Orten, an denen auch heute noch der Genius Loci des «ganz Anderen» zu spüren ist: Taormina in Sizilien zum Beispiel oder Capri, das den Aussteigern des späten 19. Jahrhunderts wie der Vorhof des Paradieses erschien. Zugleich zeigt uns Schwab diese Aussteiger als Menschen, «die eine Gegenwelt zum Konkurrenzdruck in den Städten suchen,zum übersteigerten Nationalismus und zum allgegenwärtigen Krisengefühl, das sie seismografisch aufnehmen».
Vor allem aber macht er seine Leserinnen und Leser mit Menschen bekannt,die ganz bewusst Lebensstile ausprobierten, die sich erst sehr viel später in der gesamten Gesellschaft durchzusetzen begannen. In Schwabs Deutungen erweisen sich die Künstlerkolonien von Barbizon bis zum Monte Verità gleichsam als Laboratorien der Moderne – mit all ihren Fortschritten und mit allen Enttäuschungen.»

Tagesanzeiger, Der Bund, 19.8.2021, Alexander Sury: «Sein Buch «Zeit der Aussteiger» ist eine anregende Geschichte der Gegenentwürfe zur bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft. Als gewiefter literarischer Flaneur inspiziert der Autor anekdotenreich zehn Künstlerkolonien, u. a. Barbizon, Pont-Aven, Tanger, Worpswede und Monte Verità.»

SRF Sachbuchtrio: https://www.srf.ch/audio/kontext/orte-fuer-gegenentwuerfe?partId=12032022

Die literarische Welt, Marianna Lieder: «Nun war es keineswegs immer so, dass die Nähe zur romantisch verklärten Natur und die Freiheit von bürgerlichen Konventionen immer einen Schaffensrausch auslöste. Robert Louis Stevenson, der später als Verfasser der «Schatzinsel» berühmt werden sollte, lästerte anlässlich eines Besuchs in Barbizon über die «Snoozers», also die zum Nickerchen neigenden Maler des Ortes. Ausgedehnte Latenzphasen wurden später auch bei den Bewohnern des Monte Verità beobachtet, die sich ohnehin mehr um Gymnastik, Spezialdiäten und ihre Affären kümmerten als um ihre Bilder oder Romane. Für Schwab äußerte sich darin eine programmatische Bohemegesinnung, die später von den 68ern wiederbelebt wurde. Demnach sind nicht mehr die Werke der Grund für die Daseinsberechtigung des Künstlers, sondern das richtige, das demonstrativ «authentisch» und unkonventionell gelebte Leben. Ein Künstler, der etwas auf sich hielt, hatte eben auch Künstlerdarsteller zu sein. […] Schwab erliegt zum Glück nicht der Versuchung, das exzentrische Personal seines Buches durch Psychologisierungen und sonstige erzählerische Pirouetten dem Gegenwartsleser künstlich nahezubringen. «
https://www.welt.de/kultur/plus232736889/Andreas-Schwab-ueber-die-Zeit-der-Aussteiger-Musen-und-Morphinisten.html

Yvonne Bölt, Gian Pietro Milani, Ferienjournal Ascona, November 2021 – Februar 2022 [PDF]

Interviews

Deutschlandfunk: [Link]

Der Wecker, 21. September 2021 [PDF]

taz Talk mit Jan Feddersen, 22. Oktober 2021 [Link]

SWR2, 25. Oktober 2021 [Link]

Interview mit Andreas Schwab, Mai 2021

Was musste ein Ort haben, um in Ihr Buch aufgenommen zu werden?
Es mussten sich im Zeitraum von 1850 bis 1950 möglichst zahlreiche unterschiedliche Aussteiger dauerhaft dort niedergelassen und sich mit dem Ort auch künstlerisch beschäftigt haben. Um meinem europäischen Anspruch gerecht zu werden, habe ich auch auf eine ausgewogene geograšsche Verteilung geachtet. Es sollte schließlich eine echte Reise werden! Ich denke, dass ich mit den ausgewählten zehn Künstlerkolonien in acht Ländern diesem Anspruch gerecht geworden bin.

Sie haben für Ihr Buch eine besondere Dramaturgie gewählt.
An der Dramaturgie habe ich lange gearbeitet, es war eine echte Knobelei, bis es aufging. Ich wollte deutlich machen, dass es im besagten Zeitraum ein reales Netzwerk von hochmobilen Künstlerinnen und Künstlern gab, die sich an den einschlägigen Orten trafen. Darum
habe ich die Form des Reigens entwickelt: Wie beim olympischen Feuer trägt immer eine Person die Fackel des Künstlerischen an einen neuen Ort, den ich daraufhin beschreibe. Mit einer weiteren Person geht es dann zum nächsten Ort, bis uns am Schluss Harald Szeemann auf dem Monte Verità in Empfang nimmt.

Was waren das für Menschen, die diese Sehnsuchtsorte aufgesucht haben?
Die Schriftstellerinnen, Maler und Bohèmiens, die ich beschreibe, 6 «Ein reales Netzwerk von hochmobilen Künstlerinnen und Künstlern» haben in sehr vielen Fällen ein ausgesprochen unbürgerliches Leben abseits der damaligen Konventionen geführt. In den Künstlerkolonien
tummelten sich emanzipierte Schriftstellerinnen, gesellschaftliche Außenseiter und Lebenskünstler ebenso wie zahlreiche lesbische und schwule Paare. Viele von ihnen kämpften für ein selbstbestimmtes Leben, das sie für die Öªentlichkeit auch gerne auf Fotos und Gemälden inszenierten.

Worin liegt für Sie die aktuelle Bedeutung des Themas Künstlerkolonien?
Angesichts beunruhigender autoritärer Tendenzen in vielen Ländern scheint es mir ein nicht zu unterschätzendes politisches Zeichen, an die freiheitsliebenden Aussteiger in den Künstlerkolonien zu erinnern. Wichtige gesellschaftliche Entwicklungen wie die Frauenemanzipation oder die rechtliche Gleichstellung Homosexueller und queerer Menschen sind in ihrem Schutzraum zumindest zum Teil ermöglicht und befördert worden. Für mich gehört das ganz essentiell zum europäischen Kulturerbe. Gleichzeitig war es mir aber auch wichtig, problematische Tendenzen in Künstlerkolonien zu benennen, beispielsweise die immer wieder spürbare Herablassung der zugezogenen Künstlerinnen und Künstler den Einheimischen gegenüber.

Und heute? Wohin zieht es Aussteiger heute? Oder gibt es diesen Typus
gar nicht mehr?
Eine schwierige Frage. Ich denke, dass sich mit der Globalisierung und dem weltumspannenden Internet die Voraussetzungen im Vergleich zu dem von mir beschriebenen Zeitraum verändert haben. Die Orte selbst haben möglicherweise an Bedeutung verloren, jedenfalls scheinen sie nicht mehr so klar identišzierbar. Vielleicht sind es heute eher Festivals wie «Burning Man», an denen Vergleichbares passiert. Ein Punkt aber ist oªensichtlich: Viele Posen von selbstdarstellenden Menschen auf Social-Media-Plattformen wie Instagram oder Facebook sind vergleichbar mit denen der Aussteiger vor über hundert Jahren!